Überlingen, den 17. Dezember 2005
Sehr verehrte, liebe Mitglieder und Freunde,
"Wir bringen euch gute neue Mär" - so viel, dass es ein langer Brief wird. Muße zur Lektüre bringen Ihnen hoffentlich die Tage nach dem Weihnachtsfest.
Die guten Nachrichten kommen aus Jaroslawl. Nachdem die Schule im Krisengewitter der letzten zwei Jahre beinahe gekentert wäre, ist nun die Ruhe nach dem Sturm eingekehrt. Der Schaden ist groß, die Zuversicht und der Zukunftswille sind es auch. Schüler- und Lehrerschaft sind um ein Drittel geschrumpft, aber gerade die Eltern und Lehrer, die durchhalten konnten, lieben "ihre" Schule und sind sich jetzt einig über den Weg, den Waldorfpädagogik unter spezifisch russischen Bedingungen gehen kann.
Wir sind stolz, obwohl wir nicht das Geringste dafür können, dass die 11. Klasse der WS Jaroslawl die beste Abschlussprüfung im ganzen Kreisgebiet gemacht hat (entspricht unserem Zentralabitur). Und wir sind nochmals stolz, dass die Schule dabei drei Preisträger hervorgebracht hat: drei SchülerInnen haben erste und zweite Preise in den Fächern Deutsch, EDV und Biologie erhalten. Diesem glänzenden Abschneiden und der hartnäckigen Überzeugungskunst der Direktorin Galina Wolkowa ist es zu verdanken, dass der Schule ab Januar wieder Zuschüsse versprochen wurden - keine staatlichen wie früher, sondern städtische. Die staatlichen Zuschüsse bleiben für alle Privatschulen gestrichen; denn in den Politikerköpfen sind "Freiheit" und "Bedrohung" immer noch Zwillinge. Übrigens ist die Waldorfschule die einzige Privatschule in Jaroslawl, die den Finanzcrash überlebt hat. Darauf sind wir abermals stolz, in diesem Fall mit einer gewissen Berechtigung.
Viele Menschen haben mitgeholfen, das leckgeschlagene Schiff zu retten: Michael Zech von der IAO (Internationale Organisation zur Förderung der Waldorfpädagogik in Osteuropa) reiste zweimal nach Jaroslawl, um Geld und soziales Knowhow zur Verfügung zu stellen; die WS Kassel sammelte Spenden und entsandte einen kompetenten Berater, der die verstörten Kollegen und Eltern wieder aufrichtete; Warwara Tschachotina unterrichtete dreimal mehrere Wochen lang Lehrer und Schüler. Eine bewundernswerte Tatkraft entfaltete Frau Dr. Maria Sophia Buhl (längst pensionierte Lehrerin in Würzburg), indem sie ca. 15.000 Euro Spenden sammelte, die z.T. über unser Konto gingen.
Natürlich steht die Schule noch nicht stabil auf eigenen Beinen - zu heftig war der Schock, zu gravierend der Schaden. Schulden müssen abbezahlt, die maroden Klassenzimmer renoviert werden, und die Lehrerfortbildung darf nicht zu kurz kommen. Von einer Erhöhung der Gehälter oder Senkung der Elternbeiträge kann keine Rede sein. So erreichten uns wieder über 20 Briefe, in denen die Eltern ihre Lebensumstände schildern und um Schulgeldzuschuss bitten. Dank Frau Dr. Buhls Mithilfe konnten wir allen Bittenden freudig mit einem Ja antworten, so dass kein Kind mehr aus finanziellen Gründen abgemeldet werden musste.
Dass wir die weitere Entwicklung der Schule hoffnungsvoll sehen, ist keine Euphorie. Der Kindergarten hat in diesem Jahr eine dritte Gruppe eröffnet, eine vierte wäre möglich, wenn Raum und Personal da wären; für die zukünftige 1. Klasse liegen schon 15 Anmeldungen vor; eine Mutter, Psychologin, hat eine Beratungsstelle für Mütter mit Kleinkindern eingerichtet; es gab einen "Tag der offenen Tür", und Lehrer gehen in Kindergärten, um die Schule vorzustellen. Am heutigen Tag feiert die Waldorfschule Jaroslawl ihr fünfzehnjähriges Bestehen. Wir freuen uns, dass sie lebt und wünschen Glück und Segen.
Nun zur Vereinsarbeit. In diesem Jahr gingen mehr als 27.000 Euro über unser Konto bzw. liegen z.T. noch dort; davon stammen fast 11.000 von Frau Dr. Buhl, auch Spenden aus Kassel sind dabei. Der Verein selbst hat durch Verkäufe von Waren und Bergen von Selbstgemachtem über 8.000 Euro erwirtschaftet. Das ging nur dank den immer gleichen unverdrossenen Helferinnen, die das ganze Jahr über mit Schwung und Liebe mitarbeiten (zwölfmal haben wir unseren Verkaufsstand aufgebaut!). Der beachtliche "Rest" des Vereinsvermögens kam durch Spenden und Mitgliederbeiträge zusammen. Ein inniger Extradank geht an Jana Haas, die uns in engelsgleicher Großzügigkeit sämtliche Eintrittsgelder ihrer Vorträge geschenkt hat. Wir sind überzeugt, dass auf all diesem Geld, das aus mitfühlendem Herzen gegeben und erarbeitet wurde, ein Segen liegt und dass dieser Segen weiterwirkt.
Die WS Woronesch haben wir noch nicht erwähnt, aber wir haben sie keineswegs vergessen. Auch von dort traf ein Brief des Kollegiums ein mit der Bitte um Hilfe für einzelne Familien. Wir sind glücklich, dass wir niemanden abweisen müssen und dass noch eine ordentliche Reserve für die immerzu wackligen Lehrergehälter bleibt.
Stellvertretend für die vielen russischen Eltern, die uns Dankesbriefe geschrieben haben, kommt jetzt Walerij Kulakow zu Wort (er ist Sport- und Handwerkslehrer, der Verein hat ihm eine Zahnbehandlung ermöglicht): "Jetzt habe ich wieder alle Zähne, zwar künstliche, aber es sind meine. Ich kann wieder lächeln, lachen, singen und richtig sprechen. Das gibt mir Selbstvertrauen und Kraft."
Möge auch Ihnen, liebe Freunde, das Neue Jahr lächeln, lachen und singen wie der Engelschor im eingangs zitierten Weihnachtslied! Wir danken Ihnen allen und wünschen Ihnen ein fröhliches Weihnachtsfest.
Für den Verein WiR
Sergej Bojkov Elena Bockemühl Bärbel Frömter