Russische Impressionen

Oktober 2011

Mit Igor, unserem Chauffeur, fahren wir eng gedrängt in einem grünen Kleinbus mit bequemen polsterigen Plüschsesseln und mit Spitzen besetzten Vorhängchen stundenlang mal auf neuen breiten, mal auf alten holperigen Straßen immer geradeaus durchs Land. Links und rechts geht der Blick weit über Wiesen, Büsche, Flüsschen und Laubwälder in bunter Abwechslung. Die Wälder leuchten im Laufe der Woche immer lichter und gelber herüber. Noch ist Pilzezeit, und überall sieht man Reiche und Arme mit Körben voller Pilze; die einen kommen mit Autos, die anderen in wackligen Bussen oder zu Fuß. Bald wird es Schnee und Frost geben. Unter einem blauen Himmel mit großen fliegenden Wolkenfeldern sehen wir weithin nur unbebautes Land, in der Ferne vielleicht doch einmal eine Kuhherde, aber immer wieder Blockhäuschen, halb versteckt, einzeln oder in losen Gruppen. Die Fensterrahmen sind immer reich geschnitzt. Manche Häuschen sind grau und halb verfallen, andere mit leuchtenden Farben frisch bemalt. Immer aber gibt es einen Zaun drum herum. Manche stehen an der Straße. Man sieht, dass hier Menschen wohnen. Aber, wie um alles in der Welt, kann man weit dort hinten wohnen, wenn man nicht reich ist und ein Auto hat! In einem Dorf, bei einer Reihe solch armer Häuschen, sah ich eine Frau am Dorfbrunnen ihr Wasser holen, gleich gegenüber aber war eine Reihe wunderschöner neuer Häuser, alle verschiedenartig, wie kleine Phantasieschlösschen hinter hohen Mauern hervorlugend. Dort hat jeder seinen eigenen Brunnen und legt Schläuche und Leitungen. Eine befestigte Straße oder gemeinsame Kanalisation gibt es nicht. Im Wald gehst du über dickes, nasses Moos zwischen hellen Birken, Kiefern, Eschen, vereinzelt Tannen. Niemand holt die umgefallenen Bäume heraus. Mir ist, wie wenn es überall wispert und knistert vor Lebendigkeit. Wo man ist, ist es gut. Man braucht eigentlich nicht weiterzuwandern. Wohin auch? Lieber machte ich ein Zäunchen und baute darein ein Häuschen. Meine Erde!

Die Wolga! In riesigen Mäandern gemächlich fließend. Hin und wieder zieht ein mächtiges Schiff vorbei. Wohin? Im Wasser spiegelt sich der weite Himmel. Und dann die Jaroslawskaja Waldorfskaja Schkola im Herzen der Stadt! Deswegen sind wir ja gekommen. Neben riesig ragenden, halb verwahrlosten düsteren Wohnsilos leuchten Farben über grünem Gras. Du kommst über Treppen und Gänge in großzügige, helle, liebevoll gestaltete, freundlich farbig einladende Räume. Rund um die Uhr ist hier knisterndes Leben. Gegenüber der Eingangstür sitzt immer jemand in einem offenen Stübchen - auch nachts. Mittags um zwölf Uhr bekommen alle Schüler (120) und Lehrer (25), alle elf Klassen und drei Kindergartengruppen ein selbstgekochtes warmes Mittagessen. Die Pause dafür beträgt 35 Minuten - keiner geht deshalb zu McDonald's, den es auch hier nebenan gibt. Anschließend ist wieder Unterricht. Der Kindergarten geht bis sechs Uhr abends. Jede Gruppe hat einen wunderschönen Raum, wie ein Waldorfherz ihn sich nur wünschen kann für ein glückliches Kindsein, und außerdem einen gemütlichen Schlafraum mit einem eigenen Bettchen für jedes Kind.

An Michaeli gab es für die Unterstufe ein großes Fest (mit Eltern) mit einem üppigen Programm voller deftiger Spielfreude, Mutproben, Musik, Schmausen und Feiern. Es ist hier frohe Wirklichkeit, dass St. Michael alle in Licht hüllt und Mut gibt. Mut wofür? Für die Zukunft? Braucht man Mut für die Zukunft? In Russland?

Wir, das waren neun Mitglieder des Vereins WiR (Waldorfpädagogik in Russland). Bärbel Frömter, die zusammen mit zwei russischen Lehrerinnen unsere einwöchige Reise wunderbar organisiert hat, brachte der russischen Schule 7000 Euro in bar (im Bauchbeutel) aus der Arbeit des Vereins (APPLAUS!). Ohne diese Hilfe und noch andere Hilfen aus Kassel und Järna könnte die Schule nicht überleben. Die Stadt hat neuerdings ein Auge auf das wertvolle Grundstück geworfen. Was wird, wenn man die Schule von dort, wo so viele liebevolle Arbeit schon drinsteckt, verjagt? Und: Wer wird dieses riesige, herrliche Land bebauen? Es wartet. - Man braucht schon Mut!

Helga Erhart

Jaroslawskaja Waldorfskaja Schkola

Klosterkirche

Kindergarten der Waldorfschule

Holzhäuser in Wjatskoe