Überlingen, Oktober 2011
Liebe Mitglieder und Freunde,
solch einen Vereinsausflug gibt's nicht alle Jahre! Im Frühjahr hatte der Verein WiR zu einer einwöchigen Reise nach Jaroslawl eingeladen, und neun unternehmungsmutige und lernbegierige Menschen erlebten nun eine reich erfüllte Woche in dieser schönen Stadt. Die russischen Freunde hatten ein perfektes Programm zusammengestellt und erfüllten jeden zusätzlichen Wunsch wie: "Ich möchte so gern mal ins Puppentheater!" "Kann man das Radio (im Auto)/den Fernseher (im Lokal) leiser stellen?" "Gibt's hier keinen Kaffee?" "Können wir nicht mal in eine Staatsschule reinschnuppern?" "Das Ikonenmuseum muss aber auch sein!" "Ich möchte gern ein russisches Dorf sehen!" "Und ich will mal im Wald spazieren gehen!" "Ich will aber keine Pizza, sondern ein echt russisches Essen!"
Alle diese deutschen Wünsche wurden im Handumdrehen und mit fröhlicher Bereitwilligkeit erfüllt – zusätzlich zum viertägigen Ausflugsprogramm: Rostow und Uglitsch (zwei Klöster des "Goldenen Rings", die ebenso wie Jaroslawl selbst zu jeder Wolgakreuzfahrt gehören), das Dorf Wjatskoe, das von einem Moskauer Millionär (Milliardär?) umsichtig erhalten und wieder belebt wird, und der Geheimtipp Tutajew, eine alte Kaufmannsstadt, die von der breiten brückenlosen Wolga geteilt wird.
Das also waren die Sehenswürdigkeiten: fremdartig schön und vom Atem der Geschichte umweht (und von einem kalten Septemberwind). Unmittelbar zum Herzen sprachen die menschlichen Begegnungen, das warme Interesse an uns und unserem Wohlergehen, die umhüllende Atmosphäre der Waldorfschule mit dem liebevollen Unterricht (im Gegensatz zur intellektuellen Über-die-Köpfe-hinweg-Deutschstunde an der Staatsschule), der glockengleich schwebende Engelsgesang von jungen Leuten in den Kirchen, die Abenddämmerung über der Wolga…
Jaroslawl, dank Industrie und Tourismus eine prosperierende Stadt, wird von Jahr zu Jahr schöner und gepflegter, wenigstens im Zentrum: Blumenbeete, Goldkuppeln, futuristisches Planetarium, beleuchtete Wasserspiele, bügelglatte Straßen mit modernsten Ampelanlagen. Aber für so etwas Überflüssiges wie eine freie Schule ist kein Platz: Die Kündigung ist – bis jetzt nur mündlich – zum 1. Juli 2012 ausgesprochen. Auf Bitten des Vereins hat der ehemalige deutsche Botschafter in Moskau, Dr. Ernst-Jörg von Studnitz, einen eindrücklichen Brief an den Bürgermeister von Jaroslawl geschrieben. Wenigstens sorgte dieser Brief für Ärger und Aufsehen ("Wieso mischen sich jetzt Deutsche hier ein?").
Die Direktorin der WS, Lena Sergejewa, hat diesen Brief mitsamt einer professionellen Dokumentation über die Schule dem Gouverneur (= Ministerpräsident) in einem persönlichen Gespräch übergeben. Während dieses Gesprächs war unsere Reisegruppe gerade im Kloster Rostow, und jeder von uns zündete vor der Ikonostase eine Kerze an mit Segenswünschen für diese wunderbare kleine Schule. So viele gute Samen werden dort ausgestreut und gepflegt, so viele wohlmeinende und über den Tag hinausblickende Menschen setzen ihre Kräfte ein – es kann nicht sein, dass dieser blühende Garten zerstört wird. Im März sind Wahlen, und es gibt Hoffnung, dass vernünftigere Leute ans Ruder kommen, die der Waldorfschule ihren Platz lassen oder wenigstens einen gleichwertigen neuen zur Verfügung stellen. Mit dieser Hoffnung schließen wir unseren Bericht und danken Ihnen für Ihr Interesse und Ihre Unterstützung.
Mit herzlichen Grüßen
Bärbel Frömter