Brief von Dr. Ernst-Jörg von Studnitz

Ehemaliger deutscher Botschafter in Moskau

23. Februar 2006

An
WiR e.V.
88662 Überlingen

 

Sehr geehrte Vorstandsmitglieder von WiR e.V.,

Ihr Brief vom 20. Februar hat mich sehr erfreut. Einer solchen Initiative bedarf es. Es können gar nicht genug Initiativen im Blick auf Rußland entfaltet werden. Der von Ihnen verfolgte Ansatz über die Schaffung und Stärkung von Schulpartnerschaften ist besonders erfolgversprechend. Wenn sich junge Menschen unserer beiden Länder, Deutschland und Rußland, in jugendlichem Alter begegnen, entsteht ein Interesse für das jeweils andere Land, das ein Leben lang anhalten kann und in vielen Fällen auch zu beruflichen Entscheidungen in Bezug auf das andere Land führt.

Es gibt viele Gründe, die für eine enge Partnerschaft zwischen Deutschen und Russen sprechen. Historisch haben sich beide Länder immer sehr viel bedeutet. Die tragischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts mit zwei Weltkriegen sind das schlimme Gegenbeispiel für ein über Jahrhunderte hinweg positives und freundschaftliches Verhältnis. Beide Länder und ihre Kulturen haben sich immer, auch im 20. Jahrhundert, gegenseitig befruchtet. Das dient dem Wohl Europas. Aus einer engen Bindung zwischen beiden Ländern und Völkern, und keineswegs nur wegen der wechselseitigen wirtschaftlichen Interessen und sogar Abhängigkeiten, kann viel Gutes für die Zukunft unseres Kontinents im 21. Jahrhundert entstehen. Daran muß heute gearbeitet werden. Das kann und darf man nicht sich selbst überlassen. Ohne menschliches Zutun kann das Gute nicht entstehen.

Das, was hier gefordert ist, entsteht aus vielen kleinen, persönlichen Initiativen. Dazu gehört in vorbildlicher Weise die Begegnung von Schülern, Lehrern und Schulen. Die Waldorfschulen haben hier bisher schon eine Vorreiterrolle übernommen. Sie repräsentieren nur etwa zwei Prozent der weiterführenden Schulen in Deutschland, sie vermitteln aber etwa elf Prozent des in den Sekundarschulen erteilten Russischunterrichts. Das begünstigt und fördert Schulpartnerschaften. Waldorfschüler stellen auch einen großen Prozentsatz der freiwillige soziale Arbeit, oftmals unter schweren persönlichen Bedingungen leistenden jungen Deutschen. Hiermit dokumentieren sie, was ihnen die schulische Begegnung mit dem Russischen als eine teilweise Lebensaufgabe vermittelt hat.

Wenn sich der Verein „Waldorfpädagogik in Rußland" nun die Aufgabe stellt, möglichst alle 65 Waldorfschulen mit Russischunterricht zum Abschluß von Schulpartnerschaften mit russischen (Waldorf-) Schulen zu bewegen, so wird die jetzt schon bestehende fruchtbare Basis weiter gestärkt. Daß dabei auch der Zweck verfolgt wird, bestehende russische Waldorfschulen zu stärken und unterstützen, ist von allergrößter Wichtigkeit. Der Gedanke des freien Schulwesens und der Erziehung zur Freiheit wird sich nur langsam und mühsam in Rußland Bahn brechen. Letztlich können solche Schulen nur von Russen selbst getragen werden. Aber die Geschichte Rußlands im 20. Jahrhundert hat die menschlichen und realen Bedingungen, aus denen heraus Waldorfschulen entstehen können, fast gänzlich eliminiert. So sind heutige Waldorfinitiativen in Rußland auf das Beispiel und die Unterstützung derjenigen angewiesen, deren Bedingungen für die Ausformung eines freien Schulwesens günstiger waren. Die Gründe für die dringende Notwendigkeit eines freien Schulwesens sind in Rußland nicht anders als in Deutschland. Alles, was hier als Beispiel und Erfahrung vermittelt werden kann, ist von unschätzbarem Wert. Die persönlichen Begegnungen zwischen Lehrern und Schülern, aber auch von Waldorfschulinspirierten Eltern trägt dazu bei, den Waldorfschulgedanken in Rußland zu stärken und zu verbreiten. Für eine solche Initiative möchte ich Ihren Verein beglückwünschen und ich hoffe, daß Ihr Aufruf ein breites Echo findet.

Mit den besten Wünschen und freundlichen Grüßen

Ernst-Jörg von Studnitz