Galina Wolkowa 18.10.1960 – 3.12.2009
Am Samstagnachmittag trafen sich die Menschen, die sich mit Galina Wolkowa verbunden fühlen und die von dem Termin erfahren hatten, zu einer Gedenkstunde.
Seit im Jahr 1994 die hiesigen Russischlehrer die Verbindung zur WS Jaroslawl geknüpft hatten, floss ein Austausch von Schülern, Lehrern, Eltern, Ehemaligen und Interessierten hin und her. Die tragende Kraft dieses Stromes war Galina Wolkowa. Ungezählte Schüler unserer Schule waren zum Handwerkspraktikum in Jaroslawl, einige leisteten dort ihren Zivildienst, viele kamen wieder zu Besuch, machten Ferien, wohnten in russischen Familien. Alle waren willkommen, keiner wurde abgewiesen, für jeden fand Galja einen Platz. Freundschaften sind entstanden, sogar Ehen. Ihr vor Menschenliebe sprühendes Herz machte alles möglich.
Seit 1991 war Galja die Direktorin der kleinen WS in Jaroslawl. Ihrer Ausbildung nach war sie Lehrerin für Geschichte, doch hat sie wenig unterrichtet, da ihre Hauptaufgabe, die Organisation und Verwaltung der Schule, all ihre Kräfte erforderte. Es ging nicht nur darum, das kleine Kollegium nach innen zusammen zu halten, zu führen, Konflikte zu schlichten, zu fördern und zu ermutigen, weiter zu bringen und anzuregen, sondern auch darum, die vielfältigsten administrativen Aufgaben zu erfüllen: Miete für das Gebäude aufzutreiben, nötige Reparaturen in die Wege zu leiten, Verhandlungen mit der Stadt über Zuschüsse und Genehmigungen zu führen, Prüfungsfragen, Lizenzen, Anerkennung von Abschlüssen, Zulassungen für neue Kollegen beim Ministerium zu erwirken, für das Funktionieren der Schulküche zu sorgen. Eine Fülle von administrativen Fragen und das in einem Land, in einem Gemeinwesen, das ein Dinosaurier an bürokratischem Filz ist, undurchschaubar nicht nur für Außenstehende. Sie aber durchschaute das alles, sie kannte die Wege zu den entscheidenden Schaltstellen und vor allem kannte sie die Menschen. Sie kannte nicht nur die Namen von "wichtigen" Personen, sondern sie kannte wirklich die Menschen. Sie wusste, welche Sorgen und Fragen sie persönlich haben, womit man sie erfreuen oder trösten konnte. So kannte sie die Menschen in den verworrenen, kafkaesken Kanälen der Bürokratie, so kannte sie die Eltern mit ihren Sorgen um die Kinder, die Kinder mit ihren Fragen an das Leben, die Kollegen mit ihren Schwierigkeiten im Alltag und in der Schule.
In unserem Kreis erstand ihr Bild: die lebensbejahende, leichtfüßige Galja, mit der man Tränen lachen konnte; die tatkräftige, energische Direktorin, die immer da war, wo sie gebraucht wurde; die alles durchdenkende Organisatorin; die Frau mit dem phänomenalen Personengedächtnis; die Eilige mit den klappernden Absätzen, die von einem Termin zum andern hetzte und nebenbei noch Geschenke kaufte; die hilfsbereite Ansprechpartnerin bei allen Problemen ("da muss man Galja fragen, das weiß Galja, wende dich doch an Galja, Galja macht das schon …"). Durch alle Beschreibungen hindurch leuchtete ihr großes Herz, das vor Liebe brannte zu allen Menschen, zu allem Lebendigen, zu allem Guten und Schönen.
Sie war keine geschulte Anthroposophin, sie war Verwaltungsdirektorin. Aber sie hat die heilende, spirituelle Kraft der Waldorfpädagogik für die Kinder im postsowjetischen Russland sofort erkannt und ließ ihre ganze große persönliche Kraft da hinein strömen. Vor fünf Jahren hatte sie das Angebot erhalten, Rektorin der neu gegründeten juristischen Fakultät in Jaroslawl zu werden, mit einem soliden Gehalt und gesellschaftlicher Reputation – sie lehnte ab. Sie konnte nicht von "ihren" Kindern lassen und nicht von dem inneren Ruf, ihren oft bedrückten und Orientierung suchenden Mitmenschen Licht und Hoffnung zu bringen.
Die russischen Kollegen und Eltern wollen Licht und Hoffnung weiter tragen. Es ist für sie keine Frage, dass die WS Jaroslawl weiter leben wird, auch wenn es im ersten Schock sich anfühlte, als habe das Herz der Schule aufgehört zu schlagen. Auch der Verein WiR wird sich weiterhin mit einem "Jetzt-erst-recht" für das fröhliche Gedeihen der Jaroslawler Waldorfkinder einsetzen.
In schmerzlichem Mitgefühl denken wir an die 22-jährige Tochter Mascha und den Freund Sascha, der am Steuer saß und trotz blitzschneller Reaktion den Zusammenprall mit dem entgegen schleudernden Lastwagen nicht verhindern konnte. Diese beiden Menschen sind in ihren Wurzeln getroffen und brauchen unsere hoffnungs- und liebevollen Gedanken.
Bei einem der letzten Gespräche mit ihrer Mutter sagte Mascha: "Mama, ich kann nicht ohne dich leben." Und Galja erwiderte entschieden: "Das musst du jetzt lernen".
Das müssen wir alle jetzt lernen.
Thea Hepting und Bärbel Frömter